Eine überarbeitete Fassung des Textes kann hier auf HSozundKult abgerufen werden.
Am 22. und 23. März 2018 fanden im Deutschen Historischen Institut in Paris und in den diplomatischen Archiven von La Courneuve Forscher*innen sowie ein internationales interessiertes Publikum zusammen, um über die Geschichte der Entnazifizierung in der französischen Besatzungszone zu diskutieren. Die Tagung, die vom Deutschen Historischen Institut (DHI), den Archives diplomatiques in La Courneuve, der École Normale Supérieur (ENS), dem LabEx Ecrire une histoire nouvelle de l’Europe (EHNE) und der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus veranstaltet wurde, stand unter dem Zeichen des französischen ministeriellen Erlasses vom 24. Dezember 2015, (dem sog. „L’arrêté 2015“) der alle Dokumentenarchive zum Zweiten Weltkrieg öffentlich zugänglich macht – ein unermesslicher Schatz für Historiker*innen, wie bei der Tagung erneut unter Beweis gestellt wurde.
Eingang des Archivs in La Courneuve
Nach der Eröffnung der Veranstaltung durch den stellv. Institutsleiter des DHI Stefan Martens führte Marie-Bénédicte Vincent (ENS), die zur Entnazifizierung westdeutscher Beamten forscht, zentrale Punkte der bisherigen Entnazifizierungsforschung in einem breiten Panorama vor. Dass die Säuberung auf juristischer, administrativer und professioneller Ebene vorgenommen wurde und letztendlich eine gesellschaftliche Reintegration der Betroffenen als Ziel hatte, bildet eine strukturelle Grundlage der Forschung. Wolle man herausfinden, wie die „Entnazifizierungsmaschine“ (Vincent) funktionierte, lohne sich die Frage nach den Akteuren, ihren Instrumenten und Kriterien, die in den Jahren 1945-1948/49 am gesellschaftlichen Prozess beteiligt waren. In diesem Zusammenhang sei vor allem bemerkenswert, wie vielfältig die Quellen und relevanten Begriffe seien. Beispielsweise lasse bereits die Polysemie von Entnazifizierung, im Verständnis als Säuberung genauso wie als gesellschaftliche Reformierung, auf die zahlreichen betroffenen Bereiche des Prozesses schließen. Ein erstes Beispiel lieferte Matthias Gemählich (Universität Mainz) mit einem Vortrag zur französischen Anklage im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46. Gemählich veranschaulichte, wie unterschiedlich die vier alliierten Delegationen im internationalen Gerichtsverfahren ihre Anklagen führten. Besonderes Augenmerk habe auf dem Konzept der „Kollektivschuld“, dem die französische Anklage anhing, gelegen, wohingegen die anglophone Anklage eher auf das Konzept eines „Komplotts“ abzielte: Zwei entgegengesetzte Vorstellungen, die sich in die Debatte um die seit von Karl Jaspers 1946 diskutierten Schuldfrage einschreiben und in Teilen noch im 21. Jahrhundert für Strafprozesse um nationalsozialistische Massenverbrechten relevant bleiben.[1]
Corine Defrance (CNRS/LabEx EHNE) und Frank Hüther (Universität Mainz) beleuchteten in ihrer Präsentation zur Entstehung der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz die Herausforderungen bei der personellen Besetzung. Der „Fachkräftemangel“ nach 1945 betraf auch den universitären Bereich – weshalb die französische Administration bei der Rekrutierung des akademischen Personals für die neu gegründete Universität auf breit gesponnene persönliche Netzwerke habe zurückgreifen müssen. Eine individuelle Prüfung des Lehrpersonals fördert heute sehr diversifizierte Biographien zu Tage, wie Hüther an Beispielen aus dem Universitätsarchiv belegte. Eine ebenfalls individuelle Betrachtung erfordert die Geschichte der deutschen Konzerne: Jürgen Finger (DHI) illustrierte anhand der Beispiele Dr. Oetker und Boehringer Ingelheim, welche Ansätze zur Entnazifizierung großer Unternehmen angewandt und umgesetzt wurden.
Den ersten Tag des Kolloquiums beschloss eine Diskussion mit Corinna Franz (SBAH), Dominik Geppert (Universität Bonn) und Stefan Creuzberger (Universität Rostock) über Deutsche Ministerien und Behörden und den Nationalsozialismus. Basierend auf den beiden Stoßrichtungen „Säuberung“ und „Demokratisierung“ bilanzierten die Diskutierenden den Forschungsstand zur politischen Implikation der deutschen Behörden vor 1945 sowie die resultierenden Kontinuitäten und Zäsuren nach 1945. Ein kürzlich von Dominik Geppert und Dirk Creuzberger herausgegebener Sammelband[2] stellt heraus, welche Interessen und Dynamiken in der Besetzung und Reorganisierung der deutschen Behörden sichtbar waren und welche Eingeständnisse, auch im Hinblick auf den erwähnten „Fachkräftemangel“ in den Institutionen, gemacht wurden. Auch die Frage nach den Kriterien, die bei der Kategorisierung der Betroffenen – vor allem ihre Mitgliedschaft in der NSDAP – angewandt wurden, steht nach 1949 während der Ära Adenauer im Vordergrund: Wie in der Diskussion mit Verweis auf Gustav Heinemann (bis 1952 CDU, nach 1957 SPD) angemerkt wurde, variierten die angelegten Maßstäbe oftmals nach Parteizugehörigkeit. Dieses Abwägen stellt eins der zentralen Argumente dar für den in der Ära Adenauer häufig vernommenen Restaurationsvorwurf.
Der zweite Tag des Kolloquiums im diplomatischen Archiv begann mit einer Präsentation der Quellenlage aus den wichtigsten Archiven in der ehemaligen französischen Besatzungszone (ZFO): Kurt Hochstuhl, Peter Wettmann-Jungblut und Walter Rummel stellten das Landesarchiv BaWu, das Staatsarchiv Freiburg i.Br, und die Landesarchive des Saarlandes und von Rheinland-Pfalz vor. Dabei wurde deutlich, wie viele Quellen vorhanden sind und wie viel Arbeit noch möglich ist – trotz großer Lücken aufgrund mutwilliger Zerstörung oder vernichteten und verlorenen Dokumenten. Sébastien Chauffour stellte zuletzt das diplomatische Archiv vor. Es wurde 1951 gegründet und befindet sich seit 2008 in La Courneuve, sein Bestand zur Entnazifizierung umfasst 8 Regalkilometer Akten aus etwa 80.000 Kartons in 170 Serien. Auf zwei Dossiers aus dem Sonderbestand 1BAD ging Chauffour einzeln ein: das des NSDAP-Mitglieds Arthur Maus und das Leni Riefenstahls, die nie NSDAP-Mitglied war – zwei unterschiedliche Entnazifizierungsprozesse, die gänzlich unterschiedliche Dokumentationen aufweisen. Eine während der Tagung häufig wiederkehrende Frage betraf die Organisation der Entnazifizierung durch die französische Administration in der ZFO. Wie Chauffour an einem Protokoll aus dem Archiv darstellte, hatte es bereits 1944 in den Räumen der Universität Sorbonne mehrere Konferenzen der AMFA (Administration militaire française en Allemagne) gegeben, in denen zukünftige Verwaltungsleiter der ZFO ausgebildet worden waren. Ein weiterer Aspekt der Mechanismen waren die sog. Fragebögen. Mikkel Dack (Syracuse University) sprach über die Praxis der Fragebögen in der ZFO, in der amerikanischen und der britischen Besatzungszone. Waren die Fragebögen von den USA mit dem Ziel entwickelt worden, als rein bürokratisches Instrument zur Kategorisierung der Bevölkerung zu dienen, so hatte die französische Administration den Fragebogen zunächst zwar übernommen, schließlich jedoch wegen einer anderen Zielsetzung mehrmals überarbeitet. Anders als die anglophonen Alliierten wollte die französische Administration auf den moralischen und persönlichen Hintergrund der befragten Individuen hinaus. Des Weiteren waren die Formen der Distribution und Anwendung der Fragebögen nach Besatzungszone unterschiedlich – so wurde von den Franzosen eine dezentralisierte Befragung durchgeführt, die für jeden Bereich spezifische Bögen zur Verfügung stellte. Ein ergänzender Fragenkatalog betraf beispielsweise die familiären Verhältnisse etc. der Befragten. Die Untersuchung Dacks zielt auf Konvergenzen und Divergenzen der Mechanismen von Entnazifizierung in den Besatzungszonen ab und macht Besonderheiten der Besatzungspolitik in der kontrastiven Analyse deutlich.
Einen interdisziplinären Ansatz verfolgt Anton F. Guhl (KIT Karlsruhe), der Mechanismen der Entnazifizierung – genauer: die Fragebögen und sog. Persilscheine – als verschriftliche performative Sprechakte begreift und sie als sinnstiftende Egodokumente untersucht. Im Einzelfall stellt sich beispielsweise die Frage, wie sich durch die Entlastungsschreiben die Autoren nicht nur über einen Dritten äußerten, sondern zeitgleich performativ ihre eigene Identität (re-)konstruierten. Auf diese Weise kontextualisiert Guhl die selbstreflexiven Bezüge der Autoren in den Schreiben als politische Akte der Zivilbevölkerung.

Nach einer Führung durch das 2008 eröffnete Archiv, das neben dem Präsenzbestand auch wechselnde Ausstellungen beherbergt, stellten fünf Studierende der ENS ihre laufenden Arbeiten und vorläufigen Ergebnisse vor. Zu unterschiedlichsten Themen von der personellen Besetzung der Leitung des Südwestfunks in der ZFO, das neu gegründet wurde, über die Entnazifizierung des Badischen Militärmuseums, über die Untersuchung des Haushaltspersonals im Landkreis Lindau bis hin zu den Beständen der Universitätsbibliotheken und der französischen Politik bzgl. nationalsozialistischer Literatur forschen die Studierenden in den diplomatischen Archiven und machen deutlich, welche vielseitigen Forschungsfragen an die Archive noch gestellt werden können.

Die Vorstellung dreier deutschsprachiger Qualifizierungsarbeiten schloss an die Präsentation der ENS-Studierenden an. Dorothee Gräf (RWTH Aachen) hat zur Neuausrichtung der deutschen Polizei 1945-1952 gearbeitet, die auf den unterschiedlichen Funktionen der Polizei in Diktaturen und Demokratien basiert. Die bei der Entnazifizierung des öffentlichen Dienstes gegeneinander abzuwägenden Interessen waren die Glaubwürdigkeit der Institution, die für eine äußerst strikte Säuberung sprach und wiederum die Personalmisere, die auf eine rasche Wiedereingliederung der Betroffenen drängte.
Esther Heyer (LMU München) untersucht in ihrer Dissertation die Figur des Franziskus Graf Wolff Metternich im deutschen militärischen Kunstschutz in Frankreich. Welche Rolle für den Bonner Kunsthistoriker seine Tätigkeit in Frankreich spielte und wie sich seine NSDAP-Mitgliedschaft auf seinen Status nach 1945 auswirkte, beleuchtet Esther Heyer anhand des langwierigen Entnazifizierungsverfahrens von Metternich. Die hohe Zahl von Entlastungsschreiben, die Esther Heyer gesichtet hat, lassen des Weiteren auf personelle und berufliche Netzwerke über Besatzungszonengrenzen hinweg schließen, die sich gegenseitig nach 1945 unterstützten.
Über Landesgrenzen hinweg untersucht Gunnar Mertz (Universität Wien) die Entwicklung des Alpenvereins, der 1862 als Österreichischer Alpenverein gegründet, 1873 zum Deutschen und Österreichischen Alpenverein, schließlich 1938 zum Deutschen Alpenverein wurde und schon früh als „Tarn- Rekrutierungsplattform der illegalen NSDAP“ (Mertz) diente – die Verknüpfung des Alpenvereins mit den rechtsradikalen Gruppierungen ist besonders in der starken rassenpolitischen (v.a. antisemitischen) Ausrichtung des Vereins offenbar, der 1891 in seiner Satzung den ersten „Arierparagraphen“ einführte. Mertz widmet sich der Demilitarisierung und Umorganisation nach 1945 und den langfristigen personellen Strukturen, so wie beispielsweise der Laufbahn des nach Argentinien geflüchteten Oberst Franz Pfeiffer, der nach 1945 ein Netzwerk mit ehemaligen NS-Akteuren aufrechterhielt. Trotz personeller Brüche im Zuge der Entnazifizierung sind hintergründige Kontinuitäten sichtbar, die Mertz herausarbeitet.
Das abschließende Fazit der Tagung sprach Rainer Hudemann (Sorbonne-Université) der nach einer einleitenden Hommage an die Archivare und Diplomaten der 1960er Jahre, die an der Eröffnung des diplomatischen Archivs mitgewirkt haben, einen Überblick über die Geschichte der Demokratisierung der ZFO gab. Nicht nur ist diese Epoche von vielseitigen Strömungen geprägt, sie bietet auch ambivalente Forschungsperspektiven. Entwicklungen (beispielsweise der Frage, wer unter welchen Kriterien als „Nazi“ wahrgenommen wurde) und Faktoren (beispielsweise die unterschiedliche historische und soziale Bedeutung von Gewerkschaften in Frankreich und Deutschland) spielen entscheidende Rollen für die Analyse, ebenso wie das Stichwort des „Fachkräftemangels“ und generationelle Konflikte und zeitliche Grenzen, die zu überwinden sind. Hudemann schloss mit einem positiven Fazit und einem Ausblick: Die Schaffung einer Demokratie in der ZFO sei geglückt – und die historische Untersuchung stelle immer eine Analyse der Schwachstellen zur Fehlerbehebung dar. In diesem Sinne bietet das diplomatische Archiv einen für das Forschungsfeld einzigartigen Bestand, der in Zukunft noch weiterhin zu sichten sein wird. Von den Impulsen, die während der zweitägigen Tagung in Paris und La Courneuve gegeben wurden, wird die Zeitgeschichte und insbesondere die Erforschung der unmittelbaren Nachkriegszeit – vor allem im Rahmen der transnationalen Geschichte – dabei nur profitieren können.
[1] Vgl. dazu die Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Fall Oskar Gröning zum Umgang mit NS-Verbrechen am 20. September 2016, die Mittäterschaft an Massenverbrechen juristisch handhabbar macht.
[2] Die Ämter und ihre Vergangenheit. Ministerien und Behörden im geteilten Deutschland 1949-1972. (Rhöndorfer Gespräche 28). Hrsg. v. Dominik Geppert u. Dirk Creuzberger. Paderborn u.a. 2018.
Das Programm der Tagung kann hier abgerufen werden
Anna Gvelesiani